Ein leises Weihnachtswunder von Gabriele Baum
Es war einer dieser Dezemberabende, an denen die Kälte nicht nur auf der Haut lag, sondern irgendwie auch in den Gedanken. Der Himmel über dem kleinen Ort war dunkel wie Samt, und aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchfäden, als würden die Häuser leise seufzen. Die Straßenlaternen warfen warmes Licht auf den glitzernden Frost, und jedes Geräusch klang gedämpft, als trüge die Welt eine Decke aus Schnee. Am Rand des Orts, dort wo die letzten Gärten in Wiesen übergingen, stand ein altes Haus mit einem leicht schiefen Gartenzaun. Im Fenster brannte eine Kerze, und daneben hing ein Papierstern, der schon viele Jahre gesehen hatte. Drinnen roch es nach Zimt und Apfel, und nach diesem besonderen Duft, den nur ein Zuhause hat, in dem man sich wirklich sicher fühlen kann. In diesem Haus wohnte Emilia.
Emilia war nicht alt, aber sie hatte diese ruhige Art, die Menschen manchmal bekommen, wenn sie schon ein paar Stürme überstanden haben. Sie hatte feine Hände, die immer etwas zu tun fanden, und Augen, die schnell bemerkten, wie es den Menschen geht. Ihre Wohnung war nicht groß, aber sie war voller kleiner Dinge: eine Schale mit Nüssen, ein Körbchen mit Tannenzapfen, ein selbst gestrickter Schal über der Stuhllehne. Man konnte sehen, dass hier jemand lebte, der an Wärme und Zuneigung glaubte. Trotzdem fühlte sich dieser Dezember für Emilia anders an. Das Dekorieren hatte sie in diesem Jahr hinausgezögert. Nicht aus Abneigung gegen Weihnachten, im Gegenteil. Kerzenlicht, das die Abende weich machte, gehörte zu dem, was sie liebte. Auch die Musik, die leise durch die Küche schwebte, während Plätzchen gebacken wurden, und sogar das feine Knistern von Geschenkpapier. Doch diesmal lag etwas Schweres darunter, etwas, das alles ein wenig langsamer werden ließ. Vor ein paar Monaten war ihre Mutter gestorben. Nicht plötzlich, aber doch so, dass Emilia noch immer eine Sekunde brauchte, um zu begreifen: Nein, sie wird nicht mehr anrufen, um zu fragen, ob der Apfelkuchen auch wirklich nicht zu trocken ist. Nein, sie wird nicht mehr am Fenster stehen, wenn Emilia kommt, mit einem „Da bist du ja endlich!“ als wäre es das schönste Ereignis des Tages. Emilia war damit nicht allein. Im Ort gab es viele Menschen, die jemanden vermissten. Aber das Wissen darum tröstet nicht unbedingt, es macht es nur… gemeinsamer.
An diesem Abend stand Emilia am Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. Die Schneeflocken waren winzig, tanzten kurz und lösten sich wieder auf. Im Garten lag die alte Holzbank, die ihr Vater damals gebaut hatte, halb unter einer dünnen Schneeschicht. Emilia zog den Vorhang ein Stück zur Seite, als könnte sie damit auch etwas in sich selbst öffnen. Da bemerkte sie draußen eine Bewegung. Am Zaun, ganz in der Nähe der Hecke, stand eine Gestalt. Klein, gebückt, in einen zu großen Mantel gehüllt. Emilia erschrak zuerst, weil sie niemanden erwartete. Dann sah sie genauer hin. Es war kein Eindringling, kein Fremder, der sich versteckte, es war ein Kind.
Ein Kind mit einem grauen, struppigen Mützchen, das ihm viel zu tief ins Gesicht rutschte. Es hielt etwas im Arm, dicht an sich gepresst, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Emilia zögerte nur kurz. Dann zog sie sich schnell die Stiefel über, warf sich den dicken Mantel um und öffnete die Haustür. Kälte strömte ihr entgegen, bissig und klar. „Hallo?“ rief sie leise, um das Kind nicht zu erschrecken. Die Gestalt zuckte zusammen und machte einen Schritt zurück, als hätte sie damit gerechnet, gleich weggeschickt zu werden. „Du…“, sagte Emilia vorsichtig und ging langsam näher. „Alles okay?“
Das Kind hob den Kopf, und Emilia erkannte ein schmales Gesicht mit roten Wangen und einem Blick, der viel zu erwachsen wirkte. Es war ein Mädchen, vielleicht neun oder zehn. In den Armen hielt es eine alte Katze, mit einem zerzausten Fell und einem dünnen Schwanz, der schwer herunterhing. „Sie ist kalt“, flüsterte das Mädchen, als wäre das die einzige Erklärung, die es geben musste. Emilia spürte, wie sich etwas in ihrem Brustkorb zusammenzog. Sie kniete sich hin, damit sie nicht von oben herab sprach. „Wie heißt du?“ fragte sie. Das Mädchen zögerte ein kurze Zeit dann sagte sie „Lina.“ „Und die Katze?“ Lina blickte auf das Tier, als würde sie sich selbst Mut zusprechen. „Momo.“ Emilia streckte vorsichtig die Hand aus. Die Katze blinzelte müde, Ihr Körper fühlte sich angespannt an, aber sie ließ sich berühren. Emilia spürte die Kälte im Fell, die fast wie ein Alarm war. „Kommt rein“, sagte Emilia, bei mir ist es warm. Lina machte einen Schritt, dann noch einen. Sie schaute zur Tür, als wäre sie ein Portal in eine Welt, in die sie vielleicht nicht durfte. „Ich… ich kann nicht“, sagte sie leise. Emilia zog die Stirn kraus. „Warum nicht?“ Lina schluckte. „Weil… ich nicht eingeladen bin.“ Emilia lächelte sanft. „Doch, jetzt bist du eingeladen, komm bitte ins Warme.“ Es war erstaunlich, wie sehr ein Wort manchmal Türen öffnete. Lina trat über die Schwelle, und Emilia schloss die Tür. Drinnen war es warm. Der Duft nach Zimt lag in der Luft. Die Katze hob den Kopf, als würde sie das spüren.
Emilia führte Lina in die Küche, setzte Wasser für Tee auf und holte eine Decke. Lina stand unsicher da, als wüsste sie nicht, wohin mit ihren Händen, mit ihrem Körper, mit der ganzen Situation. „Setz dich“, sagte Emilia und deutete auf einen Stuhl. „Du kannst Momo auf die Decke legen.“ Lina tat es vorsichtig, fast ehrfürchtig. Momo rollte sich zusammen, aber man sah, dass sie müde war. Emilia holte ein kleines Schälchen, füllte es mit Wasser und stellte es daneben. Dann öffnete sie eine Dose Katzenfutter, die noch von früher übrig war, ihre Mutter hatte immer gesagt, man soll ein bisschen Futter im Haus haben, falls mal ein streunendes Tier vorbeikommt. Emilia hatte damals gelächelt und gedacht: typisch Mama. Jetzt war sie dankbar dafür. Lina beobachtete jede Bewegung, als müsse sie sicher sein, dass das alles wirklich passiert. „Magst du auch was?“ fragte Emilia. „Tee? Kakao? Ich hab sogar noch Plätzchen.“ Lina schüttelte den Kopf, aber ihr Magen knurrte so laut, dass sie rot wurde. Emilia tat so, als hätte sie es nicht gehört. Sie stellte einfach einen Teller mit Plätzchen hin und eine Tasse warmen Kakao. „Ich stell’s nur hin, für später.“ Lina blickte auf die Tasse, als hätte Emilia ihr einen Schatz geschenkt. Eine Weile sagte niemand etwas. Nur der Wasserkocher klickte leise, und draußen klopften die Schneeflocken sachte gegen die Fensterscheibe. Dann fragte Emilia: „Wo kommst du her?“ Lina zog die Schultern hoch. „Von da drüben… aus der Siedlung.“ Emilia nickte, sie kannte die Siedlung. Kleine Wohnungen, viel Beton, wenig Licht. Die Art von Häusern, in denen man das Gefühl hat, die Wände seien zu dünn, um wirklich zu schützen. „Und warum bist du allein unterwegs?“ fragte Emilia. Lina strich über das Fell der Katze. „Ich bin nicht allein, ich hab Momo.“ Emilia spürte den Satz wie einen kleinen Stich. „Wo ist deine Mama?“ fragte Emilia leise. Lina’s Augen wurden kurz hart. „Zu Hause.“ „Und… geht es ihr gut?“ Lina zuckte mit den Schultern. Dieses Zucken war nicht das eines Kindes, das etwas nicht weiß. Es war das eines Kindes, das etwas zu gut weiß und nicht darüber sprechen will.
Emilia fragte nicht weiter, stattdessen griff sie nach einem kleinen Holzelch, der auf dem Fensterbrett stand. Ihre Mutter hatte ihn vor Jahren geschnitzt, ziemlich schief, aber voller Charme. „Der Elch heißt Heinrich“, sagte Emilia. Lina schaute ihn an. Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wieso Heinrich?“ „Weil meine Mutter fand, dass Elche würdige Namen brauchen und Heinrich klang für sie sehr würdig.“ Lina lachte leise. Emilia fühlte, wie etwas in ihr weich wurde. „Deine Mutter…“, sagte Lina zögernd. „Ist die…?“
Emilia nickte langsam. „ja sie ist gestorben.“ Lina senkte den Blick. „oh das tut mir leid.“ Sie setzten sich beide näher an den Tisch. Emilia schob den Teller mit Plätzchen ein Stück zu Lina. „Weißt du“, sagte Emilia, „ich glaube, an Weihnachten passieren manchmal Dinge, die wie Zufälle aussehen. Aber vielleicht sind es gar keine.“ Lina nahm vorsichtig ein Plätzchen. „Wie meinst du das?“ Emilia überlegte kurz. „Ich meine, dass man manchmal genau da landet, wo man gebraucht wird. Oder wo man jemanden trifft, der einen braucht.“ Lina kaute langsam, als würde sie auch über die Worte nachdenken. Momo schnurrte plötzlich leise, fast unhörbar. Es war ein raues Schnurren, als hätte sie lange nicht mehr geschnurrt und müsste es erst wieder üben. Lina’s Gesicht entspannte sich für einen Moment. „Sie ist alt“, sagte Lina. „Eigentlich gehört sie niemandem. Aber sie war immer da… und irgendwann gehörte sie dann zu mir.“ Emilia nickte. „Manchmal wählen Tiere uns aus.“ Lina sah Emilia an, als würde sie prüfen, ob Emilia das wirklich meint. Dann sagte sie: „Ich hab Angst, dass sie stirbt.“ Emilia legte ihre Hand auf den Tisch. Nicht auf Lina’s Hand, einfach auf den Tisch, als Angebot. „Ich verstehe das“, sagte Emilia leise. „Aber jetzt ist sie hier und sie kann auch aufwärmen und ihr Futter fressen. Und wir können morgen zum Tierarzt, ja?“ Lina’s Augen wurden groß. „Wirklich?“ „Ja, Wirklich.“ Lina atmete aus, als hätte sie die Luft seit Stunden angehalten. Die Zeit verging, Emilia zog noch eine Kerze aus der Schublade und stellte sie auf den Tisch. Das warme Licht machte alles weicher. Lina trank inzwischen Kakao, langsam, Schluck für Schluck. Immer wieder sah sie zur Tür, als müsste sie damit rechnen, dass jemand sie gleich holt. „Musst du nach Hause?“ fragte Emilia irgendwann. Lina nickte zögernd, „Ich… soll eigentlich nicht so lange weg sein.“
Emilia spürte, dass da viel mehr dahinter steckte. Regeln, die man nicht bricht. Angst, die man nicht zeigt. Ein Zuhause, das vielleicht kein Zuhause ist. „Ich bring dich“, sagte Emilia. Lina starrte sie an. „das must du musst nicht., draußen ist es doch so sehr kalt“ „Doch“, sagte Emilia ruhig. „Ich möchte gerne“ Emilia wickelte Momo in die Decke, setzte sie in einen alten Korb, den sie noch im Keller hatte, und zog Lina einen warmen Schal an. Der Schal war zu groß, aber das war gut. Große Schals sind wie Umarmungen, die man anziehen kann. Draußen war es kälter geworden. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. Lina ging neben Emilia, so dicht wie möglich, als wolle sie in ihrer Wärme laufen. Als sie an der Straße entlang gingen, sah Emilia, wie die Lichter in den Häusern flackerten. Weihnachtsbäume, Sternenketten und Fensterbilder. Überall kleine Inseln von Wärme. Und doch gab es dazwischen auch dunkle Fenster, in denen nichts leuchtete. Vor einem dieser dunklen Fenster blieb Lina stehen. Ein Mehrfamilienhaus, graue Fassade, ein Briefkasten mit abgeplatztem Namen. Lina zog den Kopf ein. „Hier“, sagte sie. Emilia spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Es war nicht der Ort an sich. Es war Lina’s Körper, der sich in sich selbst zusammenfaltete. „Soll ich mit hochkommen?“ fragte Emilia leise. Lina schüttelte den Kopf so heftig, dass die Mütze fast herunterfiel. „Nein.“ Emilia nickte. „Okay.“ Sie reichte Lina den Korb mit Momo. Lina nahm ihn, aber ihre Finger zitterten. „Morgen um zehn“, sagte Emilia, „ich hol dich ab. Wir gehen zum Tierarzt.“ Lina schaute auf. „Du… kommst wirklich?“ „Ja“, sagte Emilia. „Ich komme.“
Lina stand da, mit dem Korb im Arm, und sah Emilia an, als würde sie das Bild in sich speichern. Dann flüsterte sie: „Danke.“ Emilia ging erst, als Lina im Haus verschwunden war. Sie blieb noch kurz draußen stehen, atmete die kalte Luft ein und spürte, wie sich die Welt an diesem Abend verschoben hatte. Nicht dramatisch, nicht laut. Eher wie ein leiser Klick im Inneren, als hätte sich eine Tür geöffnet. Zu Hause setzte Emilia sich an den Tisch, auf dem noch die Kerze brannte. Der Teller mit Plätzchen war halb leer. Sie dachte an Lina’s Blick. An die Art, wie sie „nicht eingeladen“ gesagt hatte. An dieses Gefühl, dass ein Kind sich schon so früh daran gewöhnt, keinen Platz zu haben. Emilia stand auf, holte ihr Handy und öffnete die Kontakte. Sie scrollte, fand die Nummer von Frau Schuster, die im Ort als Sozialarbeiterin arbeitete und die Emilia von einem Nachbarschaftstreffen kannte. Emilia zögerte, dann schrieb sie eine kurze Nachricht: Ich habe heute ein Mädchen getroffen, Lina. Ich mache mir Sorgen. Kann ich morgen mit dir sprechen? Es ist dringend. Sie legte das Handy weg, als hätte sie damit etwas in Bewegung gesetzt, das nicht mehr zurückzunehmen war. In dieser Nacht schlief Emilia schlecht. Sie träumte von ihrer Mutter, die in der Küche stand und Teig knetete. Im Traum sagte ihre Mutter: „Du weißt schon, was du tun musst.“ Emilia antwortete: „Ich weiß es nicht.“ Und ihre Mutter lächelte nur und sagte: „Doch, das weißt du“
Am Morgen war die Welt weiß. Der Schnee hatte in der Nacht beschlossen, wirklich zu bleiben. Die Dächer waren bedeckt, die Bäume trugen schwere weiße Mützen. Alles sah aus wie auf einer Postkarte. Emilia machte sich fertig, nahm den Korb, eine neue Decke, ein paar Katzenleckerlis und eine kleine Tüte mit Mandarinen, dann ging sie los. Lina stand schon unten vor dem Haus, als hätte sie die ganze Zeit gewartet. Momo im Arm, in die Decke gewickelt. Lina’s Gesicht war blass, aber ihre Augen leuchteten, als sie Emilia sah. „Du bist wirklich gekommen“, sagte sie, als müsste sie es laut hören. „Natürlich“, sagte Emilia. Sie gingen zusammen zur Tierarztpraxis. Auf dem Weg erzählte Lina ein bisschen mehr. Nicht viel, aber genug, um zwischen den Sätzen das Unausgesprochene zu hören. „Mama schläft viel“, sagte Lina. „Manchmal schreit sie und manchmal ist sie ganz nett. Dann… dann ist sie fast wie früher.“ Emilia hörte zu, ohne Lina zu drängen. Sie spürte, dass jedes Wort schon Mut kostete. In der Praxis roch es nach Desinfektion und Tierfutter. Momo wurde untersucht, bekam eine Spritze, und die Tierärztin, eine freundliche Frau mit ruhiger Stimme sagte: „Sie ist schwach, aber sie hat eine Chance. Wenn sie regelmäßig frisst und warm bleibt, kann sie noch eine Weile bei euch sein.“ Lina hielt den Atem an. „Wirklich?“ „Ja“, sagte die Ärztin. „doch sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.“ Emilia sah Lina an. Lina’s Blick war voller Ernst. „Ich kümmere mich“, sagte sie. Auf dem Rückweg hielt Lina den Korb fester. Als würde er ihr Herz enthalten. Emilia brachte Lina nach Hause. Unten im Treppenhaus war es kalt. Lina blieb stehen, bevor sie die Tür öffnete. „Darf ich… darf ich heute zu dir kommen?“ fragte sie plötzlich, so leise, dass Emilia fast dachte, sie hätte es sich eingebildet. Emilia spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es war nicht nur eine Bitte um Kuchen oder Wärme. Es war die Bitte um einen sicheren Raum. „Ja“, sagte Emilia ohne Zögern. „Du darfst, komme gerne heute Nachmittag zu mir und Momo bringst du auch mit“ Lina schloss kurz die Augen, als würde sie diese Antwort in sich einsinken lassen. Dann nickte sie und verschwand hinter der Tür. Emilia ging zufrieden nach Hause, sie fühlte sich nicht mehr allein. Am Nachmittag klingelte es. Lina stand da, mit Momo im Korb und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken. Sie hatte sich die Haare gekämmt, als hätte sie sich besonders Mühe gegeben. Emilia ließ sie hinein, als wäre es das Normalste der Welt. Sie machten zusammen Waffeln. Lina rührte den Teig und Emilia schmolz Butter. Momo lag auf einem Kissen in der Nähe der Heizung und schnurrte. Es war ein kleines, unspektakuläres Bild und genau deshalb so kostbar. Während die Waffeln im Eisen brutzelten, fragte Emilia: „Was wünschst du dir zu Weihnachten?“ Lina zuckte zuerst mit den Schultern. Dann sagte sie: „Dass es ruhig ist.“ Emilia schluckte. „Das ist ein guter Wunsch.“ Lina sah sie an. „Und du?“ Emilia dachte an ihre Mutter, an die Stille und die Kerze im Fenster. „Ich wünsche mir“, sagte Emilia langsam, „dass ich wieder spüre, dass ich nicht nur verliere. Dass ich auch geben kann." Lina nickte, als hätte sie das verstanden, obwohl sie es vielleicht nur gefühlt hat. Später am Abend saßen sie beide auf dem Sofa. Der Weihnachtsbaum war noch nicht fertig geschmückt, nur die Lichterkette hing schon. Emilia hatte sie gestern Nacht aufgehängt, ohne groß darüber nachzudenken. Jetzt leuchtete sie in warmem Gelb. Lina hielt eine Tasse Tee in den Händen und starrte ins Licht. „Emilia?“ fragte sie irgendwann. „Ja?“ „Warum hast du mich reingelassen?“ Emilia spürte, wie sich die Frage in ihr ausbreitete. Sie war so direkt, so ernst, so… wichtig. Sie überlegte, man konnte sagen: weil es kalt war, oder weil du ein Kind bist. Weil niemand allein sein soll. Alles wäre wahr gewesen. Doch alle Antworten wären nicht stimmig gewesen „Weil ich dich gesehen habe“, sagte Emilia schließlich. „Und weil ich glaube, dass wir manchmal einander finden, wenn wir es am dringendsten brauchen.“ Lina’s Augen füllten sich mit Tränen, sie nickte glücklich. In den folgenden Tagen wurde Lina zu einem Teil von Emilias Alltag. Nicht offiziell, nicht mit großen Worten, sondern einfach durch Anwesenheit. Lina kam nach der Schule vorbei. Manchmal für eine Stunde, manchmal länger. Momo erholte sich langsam. Sie fraß wieder, sie schnurrte lauter, sie setzte sich irgendwann sogar auf Lina’s Schoß und schlief ein. Emilia telefonierte mit Frau Schuster. Es wurden Gespräche geführt, Dinge überprüft, vorsichtig, aber konsequent. Emilia lernte dabei, wie kompliziert Hilfe manchmal ist, und wie wichtig es ist, dranzubleiben. Und dann war Heiligabend. Der Schnee lag immer noch, als hätte er beschlossen, dieses Jahr besonders standhaft zu sein. In Emilias Wohnzimmer stand jetzt ein geschmückter Baum. Lina hatte die Kugeln aufgehängt, mit einer Ernsthaftigkeit, als wäre es ein Ritual. Emilia hatte kleine Strohsterne dazu gehängt und den alten Papierstern ins Fenster geklebt. In der Küche roch es nach Kartoffelsalat, nach warmem Brot und nach Zimt. Momo lag wie eine Königin auf dem Teppich und beobachtete alles.
Lina saß auf dem Sofa, die Hände im Schoß. Sie wirkte angespannt, als wäre sie nicht sicher, ob dieser Abend wirklich ihr gehören durfte. Emilia setzte sich neben sie. „Du bist heute hier“, sagte sie. „Und das ist richtig so.“ Lina sah Emilia an. „Mama… sie hat gesagt, ich soll gehen. Sie hat gesagt, ich soll sie in Ruhe lassen.“ Emilia spürte, wie ihr Hals eng wurde. Sie legte einen Arm um Lina, ganz vorsichtig, als würde sie fragen, ob es okay ist. Lina lehnte sich langsam an. „Manchmal“, sagte Emilia leise, „sagen Menschen Dinge, weil sie selbst nicht wissen, wie sie mit ihrem Schmerz umgehen sollen. Das macht es nicht okay. Aber es heißt, dass du nicht schuld bist.“ Lina atmete zittrig aus. „Ich dachte immer, ich bin schuld.“ Emilia schüttelte den Kopf. „Nein. Du bist nicht schuld.“ Es war still, nur die Lichterkette summte ganz leise. Dann stand Emilia auf, ging zum Baum und holte ein kleines Geschenk. Es war in schlichtes Papier gewickelt, mit einem roten Band, sie reichte es Lina. „Für dich“, sagte sie. Lina starrte darauf. „Ich… ich hab nichts für dich.“ Emilia lächelte. „Du bist hier, das reicht.“ Lina öffnete das Geschenk langsam. Darin lag ein kleines Notizbuch mit einem goldenen Stern auf dem Cover und ein Stift, der sich gut anfühlte. „Damit“, sagte Emilia, „kannst du deine Geschichten aufschreiben, deine Wünsche und alles, was du sonst niemandem sagen kannst.“ Lina strich über das Cover, als wäre es etwas Zerbrechliches. „Darf ich wirklich?“ „Ja“, sagte Emilia. „Alles, was in dieses Buch kommt, gehört dir.“ Lina schluckte, dann flüsterte sie: „Ich hab eine Geschichte.“ Emilia setzte sich wieder.
Lina sah zum Baum, zum Licht und zu Momo. Dann sagte sie: „Es war einmal ein Mädchen, das dachte, sie darf nicht rein. Und dann hat jemand die Tür aufgemacht. Und das Mädchen hat gemerkt, dass es nicht falsch ist, zu leben.“ Emilia spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihr wurde ganz warm ums Herz. „Das ist eine gute Geschichte“, sagte Emilia. Lina nickte, und diesmal fielen die Tränen. Sie weinte leise und lange. Emilia hielt sie umarmt. Draußen schneite es, und drinnen war Licht.
Später aßen sie zusammen. Sie lachten über Momo, die versuchte, ein Stück Wurst zu klauen. Sie hörten Weihnachtsmusik. Und irgendwann, als der Abend schon tief war, stand Lina am Fenster und schaute hinaus. „Es ist schön“, sagte sie. Emilia trat neben sie. „Ja wunderschön“ Lina sah Emilia an. „Glaubst du, dass es nächstes Jahr auch noch schön sein kann?“ Emilia dachte an alles, was noch kommen würde. An Behördengänge, an Gespräche, an Unsicherheit. Aber sie dachte auch an Lina’s Notizbuch, an Momo’s Schnurren, an das Licht im Fenster. An die Tür, die offen war. „Ja“, sagte Emilia. „Ich glaube das. Nicht weil alles perfekt wird. Sondern weil wir nicht mehr alleine sind.“ Lina atmete aus, als würde sie sich zum ersten Mal erlauben, dieser Zukunft zu vertrauen. Und in diesem Moment, ganz still, ohne Feuerwerk und ohne große Worte, passierte etwas, das man vielleicht ein Weihnachtswunder nennen könnte. Ein Kind fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit eingeladen. Und eine Frau spürte, dass ihr Herz nicht nur Trauer tragen kann, sondern auch Wärme. Draußen wehte der Wind über die Schneefelder. Drinnen flackerte das Licht der Kerzen. Und irgendwo, vielleicht genau zwischen diesen beiden Welten, lächelte etwas Unsichtbares, wie eine Mutter, die in einer anderen Küche steht und leise sagt: „Du weißt schon, was du tun musst.“
Und Emilia wusste es jetzt wirklich.