Wo die Bäume süßes Gold schenken

Kanada überrascht mich immer wieder, nicht mit Lautem, sondern mit diesen leisen Momenten, die sich tief in die Seele schreiben. Bei einem meiner Besuche bei meiner Familie in Gatineau fuhren wir zu einer kleinen Ahornfarm. Die Sonne stand hoch über den weiten Feldern, Libellen tanzten über stille Wasserläufe, und irgendwo im Wald rief ein Vogel, den ich nicht kannte. In all dieser Weite und Stille hätte ich nie gedacht, dass mich etwas so Süßes und zugleich Tiefes berühren würde wie dieser Besuch.

Die Farm lag etwas versteckt zwischen alten Zuckerahornen, als hätte sie sich bewusst dem schnellen Blick entzogen. Es war kein touristischer Ort, sondern ein lebendiges Stück Geschichte, ein Ort, der sich selbst treu geblieben war. Eine ältere Frau empfing uns, mit einem Lächeln, das mehr sagte als tausend Worte. Sie war nicht nur Besitzerin, sie war Hüterin dieser Bäume, dieser Erde, dieses Wissens.

Sie führte uns langsam durch das Gelände. Ihre Hände berührten die Stämme wie alte Freunde. Mit jedem Schritt erzählte sie mehr: vom Saft, der nur dann fließt, wenn der Tag warm und die Nacht kalt ist. Von der Geduld, die es braucht, um aus vierzig Litern Baumsaft einen einzigen Liter Sirup zu gewinnen. Von der Verantwortung, mit der man diesen Prozess begleitet, denn kein Baum gibt seinen Saft, wenn man ihn nicht achtet.

Ich spürte, dass es hier nicht nur um Ahornsirup ging, es ging um Beziehung, zwischen Mensch und Natur.

In einem kleinen Schuppen stand ein großer, schwarzer Kessel über offenem Feuer. Der Duft, der daraus stieg, war süß, rauchig, fast heilig. Die Frau nahm ein kleines Holzstäbchen, tauchte es in den noch warmen Sirup und reichte es mir. Ich schmeckte und war überwältigt, nicht nur vom Geschmack, sondern von der Energie, die darin lag.

Wir setzten uns später an einen alten Holztisch unter freiem Himmel. Es gab selbstgebackenes Brot, ein Stück Käse, ein paar karamellisierte Walnüsse und natürlich Sirup. Kein überladenes Menü, nur das Wesentliche, und gerade deshalb, vollkommen.

Während wir aßen erzählte sie mir auch von der Cabane à sucre, dieser besonderen Tradition, die in Québec mit dem Frühling erwacht. Wörtlich übersetzt heißt es „Zuckerhütte“, doch das klingt viel zu schlicht für das, was dort geschieht. Es ist ein Ritual, ein Familienfest, ein Innehalten im Rhythmus der Jahreszeiten.

Wenn der Ahornsaft zu fließen beginnt, nur für kurze Zeit, nur unter ganz bestimmten Bedingungen –, dann öffnet sich rund um die alten Hütten im Wald ein Raum, der fast magisch ist. Man trifft sich, isst zusammen, lacht, genießt. Es gibt deftige Gerichte, dicke Bohnen, geräucherte Würstchen, Kartoffeln, Eier, alles übergossen mit dem ersten, frischen Sirup des Jahres. Und als krönender Abschluss, Tire sur la neige,  heißer Ahornsirup wird direkt auf den Schnee gegossen, wo er fest und zäh wird, fast wie Karamell. Die Kinder rollen ihn auf Holzstäbchen auf, ihre Finger kleben, ihre Augen strahlen.

Ich war nicht zur Erntezeit da, aber allein beim Zuhören hatte ich das Gefühl, mitten in dieser Szene zu stehen, der Duft von Holzrauch, das helle Lachen, das Flirren der Wärme im kalten Morgenlicht. Und mittendrin der Geschmack dieser goldenen Tropfen, die so viel mehr sind als nur süß. Sie erzählen von der Erde, vom Warten, vom Schenken.

Was ich auf dieser Farm erfahren habe, war mehr als eine Führung. Es war eine Erinnerung, an das, was zählt. An das, was nährt, nicht nur den Körper, sondern auch das Herz. Ich habe Kanada an diesem Tag anders kennengelernt. Nicht in seiner Weite, sondern in seiner Tiefe.

Seitdem steht bei mir eine kleine Flasche dieses Sirups auf dem Tisch. Ich benutze ihn sparsam, nicht aus Geiz, sondern aus Respekt. Manchmal träufle ich ihn über warme Hirse, über gebackene Karotten oder in eine Tasse Tee. Und immer, wenn ich diesen Geschmack spüre, erinnere ich mich an den stillen Wald, an das Knistern des Feuers, an das leise Nicken der Frau, als hätte sie gewusst, dass dieser Tag etwas in mir verändert hat.

Es sind diese Tropfen, in denen eine ganze Welt liegt. Und manchmal genügt genau das, ein kleiner Löffel Erinnerung, um das Leben wieder süß zu schmecken.

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Kommentare

Bettina Pies
Vor 3 Tage

Ich habe deine Nachricht durchgelesen - ich konnte den Ahornsirup schmecken und fühlen. Vielen lieben Dank, das du mich dran teilhaben lässt.
Liebe Grüße Bettina